Gerald Wolf: Das Gehirn. Substanz, die sich selbst begreift
Aus dem Vorwort
Unser Gehirn macht seine Arbeit leise und im verborgenen, von uns als
Selbstverständlichkeit empfunden. Aber schon bei einem ersten Nachsinnen wird sich zeigen, dass diese “Selbstverständlichkeit” doch sehr fragwürdig ist. Eigentlich gilt das für alle Dinge der lebenden
Natur. Der Mensch hat sie nicht gemacht und muss erst mühsam herausfinden, wie sie gebaut sind und wie sie funktionieren - im einfacheren Falle ein Enzymmolekül, im wahrhaft komplizierten das Zusammenspiel der Teile
eines ganzen Organismus und das Verhalten eines solchen Organismus in seiner Umwelt. Vieles ist da noch offen. Doch, so jedenfalls möchte man glauben, wenn man die Trends der Erkenntnisentwicklung auf unbestimmte
Zeit hin extrapoliert, der menschliche Geist wird auch das alles packen können. Wie aber sieht es mit dem Erkennen des erkennenden Apparates aus, unserem Gehirn? Eine Form ist die Selbstreflektion, das
Ich-Bewusstsein. Es hat bei uns Menschen eine Entwicklungsstufe erreicht, die uns weit aus dem Tierreich heraushebt. Was aber die vielleicht erstaunlichste Fähigkeit unseres Gehirns ist: Es vermag sich, in den
Grundzügen wenigstens, selbst zu begreifen, seine eigenen Strukturen und seine eigene Arbeitsweise! Ist diese Erkenntnisfähigkeit, repräsentiert durch die Hirnforschung, grenzenlos? Hat Erkenntnisfähigkeit überhaupt
objektivierbare Grenzen, selbst wenn es also nicht um unendliche Fernen des Kosmos geht?
Unzählige Details über den Bau und die Funktionsweise des Gehirns von Tieren und dem
Menschen sind bereits zusammengetragen worden. Freilich, auf die vielen großen Fragen, wie sie die Psychologen und seit jeher die Philosophen stellen, auf die Fragen nach dem Bewusstsein, dem Denken und Fühlen, kann
die Hirnforschung noch immer nur sehr vage antworten. Das Mysterium des menschlichen Geistes wird die Forschung wahrscheinlich auf lange Zeit hin in seinem Bann halten. Die Wege aber, die bereits geebnet wurden, um
die gigantische neuronale Maschinerie zu begreifen, und auch diejenigen, die gerade erst ausgebaut werden, sind genauso reizvoll. Dort, wo die Wege heute noch blind enden, kommen sie Aussichtspunkten gleich, die
einen Blick auf einen unendlichen Dschungel aus Molekülen, Membranen und Zellen bieten, deren Nah- und Fernwirkungen, zumindest bei uns Menschen, sich zu dem verflechten, was wir letztendlich Seele nennen...
Magdeburg 1996, Gerald Wolf
(Prof.Dr.rer.nat.habil. Gerald Wolf, Institut für Medizinische Neurobiologie der
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)
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